Meine Berge / Мои горы, in: «Dieser Mont Blanc verdeckt doch die ganze Aussicht!». Der literarische Blick auf Alpen, Tatra und Kaukasus, Zürich: 2016
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Ich fuhr nach Muzot, um mir das Schloss, in dem Rilke in seinen letzten Jahren gelebt hatte, anzuschauen. Das Schloss ist lächerlich klein, obwohl es halb so schlimm ist, wenn man bedenkt, dass im 11. Jahrhundert, als es gebaut wurde, die Leute ebenfalls schrecklich klein waren, etwa zweimal kleiner als die heutigen, und da Rilke dort allein wohnte, hatte er bestimmt genug Platz. Dort gibt es einen Balkon, und ich habe mir lebhaft vorgestellt, wie Rilke im Winter auf diesen Balkon hinausgeht und schaut: um ihn herum graue Berge wie eine Wand, kahle Weinfelder, törichte betrunkene Bauern, ein Dorf, genau so klein, wie sein Schloss, und der Zug nach Lausanne fährt nur einmal pro Tag – – und wie sollte er da vor Ausweglosigkeit nicht herausgeschrien haben: Wer, wenn ich schriee, hörte mich?????!!!!! Er hatte sogar angeordnet, sich im Nachbarsdorf begraben zu lassen, auf dem Berg, weil es ihm in Muzot zu eng war. Auf dem Rückweg dachte ich daran, wie inkonsequent doch Rilke war: O, Herr, gib jedem seinen eigenen Tod! Aber als er von seiner Leukämie erfuhr, kriegte er solch eine Angst! Er vergass alles, was er selbst über den Tod geschrieben hatte, und wollte nur noch leben; vor kurzem hat ein deutscher Professor ein tolles Buch über Rilke und Kröten geschrieben. Der hat alle Briefe Rilkes untersucht und aus ihnen alle auffälligen Wörter herausgeschrieben und Rilke dekonstruiert: Anscheinend hatte Rilke seine Förderer als Kröten bezeichnet, allen voran die Fürstin Thurn und Taxis, die an Übergewicht gelitten habe, dabei war Rilkes eigene Haut, vor allem vor dem Tode, von grün-erdiger Farbe, wie bei einer Kröte...